E.A. RICHTER

ZUR LESUNG IM LITERATURHAUS WIEN,
AM DONNERSTAG, 28.4.2011, 19 UHR

E. A. Richter (* 1941, Tulbing, Niederösterreich)  bildender Künstler
und Autor berichtet über eine Lesung die am 28.4.2011 im
Literaturhaus Wien aus Anlass seines 70. Geburtstages zelebriert wurde.



 

Nach der Einführung von Robert Huez, dem Chef des Literaturhauses, sprach Helmut Neundlinger, der nicht nur das Vorwort zum Porträt-Büchlein der Zeitschrift „Podium“ (E.A. Richter, Ausgewählte Gedichte) verfasst hatte, sondern auch ein feinfühliges Porträt für den „Augustin“, eine Wiener Obdachlosenzeitschrift. Darin heißt es:

Kein Despot mehr und doch kein Mann – das ist, grob gesprochen, die Kluft, in der sich die männliche Nachkriegsgeneration buchstäblich allein gelassen wiederfindet. Was bleibt, sind oft nur Karikaturen von Souveränität („H. im Glück“), Zerrbilder eines mehr post- denn antiautoritären Charakters. Das Richter‘sche Aufbegehren gegen solche Hohlformen maskuliner (Selbst-)Herrlichkeit endet jedoch nicht in der Trostlosigkeit finaler Dekonstruktion. Gleichsam als Gegenentwurf betritt der bereits genannte „Obachter“ die Bühne – einer, der eben nicht unbeteiligt und schon gar nicht unbehelligt bleibt, sondern mit seiner Sensibilität die Kostbarkeiten des Koexistierens begreift. Vor allem in den um 2007 entstandenen Incipit-Gedichten treten wir einem reifen, reflektierten lyrischen Ich gegenüber, der sich ähnlich schonungslos über die körper- und geisteigenen Prozesse der Ermüdung und Erschöpfung Rechenschaft ablegt wie Ernst Jandl in seinen letzten Gedichtbänden. Die Gedichte „Kein Interesse“  und „Eingerext“ stehen emblematisch für diesen Gestus der poetischen Selbstbeobachtung, die nicht bei der reinen Beschreibung stehen bleibt, sondern Bilder einer zuweilen dramatischen Endgültigkeit erzeugt: „Eingerext. Hingestürzt im Krampf / der proximalen Extremitätenmuskulatur - / hingestürzt, zerschlagen am Boden“.

Gerade die für Richter so typische Spannung zwischen Sinnlichkeit und Reflexion, Nähe und Distanz, Sprache und Körper steuert in den jüngsten Gedichten auf einen Ton zu, der der unendlichen Akkumulation von Ein- und Ausdrücken mit einer gewissen kosmischen Gelassenheit begegnet. Und so heißt es schließlich geradezu allumfassend im Gedicht „Körpergeburt“: „Ich atmete mich wörtlich ein, / als Toter, der wiederum Tote gebiert, // und beim nächsten Atemzug / kehrte ich in mich zurück, scheinbar unverändert.“

Als ich dieses Zitat später nochmals las, freute ich mich über die wohlwollende Positionierung zwischen Fried und Jandl, worin sich vielleicht auch Neundlingers derzeitige Hauptbeschäftigung widerspiegelt: er sichtet den Nachlaß von Schmidt-Denglers; vorher hat er sich ausführlich mit Jandl auseinandergesetzt. Wie auch übrigens Helmut Gollner; der vor allem in seinem 2010 erschienenen „Die Rache der Sprache“ viele Jandl-Gedichte genauestens analysier.

In Neundlingers Vorwort stehen auch noch diese Sätze:

Mag sein, dass man mit E. A. Richters Namen keine Gassenhauer verbindet wie mit jenen seiner berühmten Ressortkollegen Erich Fried oder Ernst Jandl. Dabei ließe sich das Werk des 1941 im niederösterreichischen Tulbing geborenen Schriftstellers in seinen vielschichtigen Qualitäten ziemlich genau in der Mitte zwischen den einander so freundlich gesinnten Antipoden Fried und Jandl ansiedeln. Auf seine Weise versucht Richter die gesellschaftskritische Wachheit des einen mit der sprachlichen Radikalität des anderen zu synthetisieren, um schließlich einen Tonfall zu kreieren, der sich von der scheinbar unwiderstehlichen Anziehungskraft der beiden Titanen emanzipiert hat.

Nicht nur wegen der Jandl-Kenntnis von Gollner und Neundlinger setzte ich mein Jandl-Gedicht von 1983 an die erste Stelle, sondern auch deshalb, weil es auf eine bestimmte Weise auch eine Poetik enthält, die auf die Ironie Jandlscher Gedichtschöpfung reagiert: Es wird das „Mond-Prinzip“ exemplifiziert, die „zunehmende Strophe,“ und das wird auch noch mit Versziffern unterstrichen. Dazu kommt die fallweise Verwendung von in den Versen versteckten Reimen. Dazu „sitzt Jot da“, als hätte er den Autor zu seinem Nachspieler bestimmt.


Dreimal sieben ist Jot
(Hommage à Ernst Jandl)

I

1 Am Anfang sitzt Jot da, auf einem ein-
2 fachen Sessel, steht auf, setzt sich
3 wieder in Jot-Form, rasselt ohne
4 Verbeugung seine Biografie runter, baut
5 einen unsichtbaren Baum auf, mit Kirschen
6 und Affen, lustiglustig, enthüllt sich
7 gelassen vor der schwarzen Tiefe.

II

1 Jot spricht aus Angst vor Subjektivität,
2 aus Hoffnung auf Objektivität, sagt Jot,
3 nur in der dritten Person, verwende
4 stets nur den Konjunktiv, breit lächelnd
5 oder mit starrem, glänzendem Blick
6 aus der nahezu randlosen Brille
7 auf einen fernen vierten Sessel,
8 der über der Situation thront.

III

1 Jot lispelt schreiend oder schreit
2 lispelnd, sagt er, und Luise, seine Mutter,
3 komme aus dem Grab, eilig, fülle
4 seine Zeilen, seine vorsichtig mit Whisky
5 oder Schlafpulvern zerstörten Zellen
6 mit Wörtern: er werde
7 Text, auf dem weißen Blatt Papier,
8 bekomme Kontur aus der dunklen
9 gleichgültigen Alltäglichkeit.

IV

1 Jot braucht, um vorwärtszukommen
2 einen Reim, sagt Jot, irgendwo, der zufällig
3 erscheine, o Gott, oder eine Zahl,
4 die sich festfresse, ihm keine andere Wahl
5 lasse, oder zumindest den schwarzen schüchternen
6 Beifall der Ein, Lebens-Freundin auf Zeit,
7 den beharrlichen Hinweis auf die Klassizität
8 seiner Liebes- und Eßkultur, seines neuesten
9 Einfalls, die längst fällige Entdeckung eines weißen
10 Flecks, unübertrefflich originell.

V

1 Plötzlich hat Jot die zunehmende Strophe
2 erfunden, sein Mond-Prinzip, sagt er, das er gleich
3 wieder umkehrt, ohne die Anfangsbuchstaben der Wörter
4 wechseln zu müssen, rinks und lechts: so
5 bleibe er immerdar in der Mitte
6 der Straße, der Zeit, inmitten der Situation,
7 Mittelpunkt der Beziehung, sei aber zugleich auch
8 abwesend, was ihn beruhige, Sprech-Blase,
9 fern von allem, in autoritärer Unschärfe.

VI

1 Deshalb zählt Jot, sagt Jot, höchstens bis drei: höflich
2 bezichtige er sich des wiederholten Versuchs,
3 sich abzuschaffen, höflich demonstriere er
4 immer wieder seine unabwendbare Verzweiflung, sein Nonsens-
5 Konsens-Leben, eingezwängt zwischen Grammatik und
6 höhnischer Herz-Dramatik: nur mit dem Fallbeil
7 des Zynismus, der Kreissäge des Selbstzweifels
8 schneid er sich zeitweis aus dem Teufelskreis raus.

VII

1 Zum Schluß wieder allein, zeigt uns Jot,
2 wie sich seine Sprache festigt, sein Ich sich auflöst
3 im Einschlafzeremoniell: in Betrachtung von Polster
4 und Tuchent, sagt Jot, streiche er das Laken glatt,
5 aufnahmebereit für seinen Nachtschweiß, sein Hin-
6 und Herwälzen, Hinauszögern, sein Fluchen über das Läuten
7 des Weckers am Morgen, trotz allem ein sehr leiser Laut.


„Blutkreislauf“ hatte sich Gollner gewünscht, auch „Elsterngedicht“, „Chantal 2“ und „Verdünnung“.


BLUTKREISLAUF

gleich mehrere Anakondas,
eine davon ein Albino, hellgelb
mit orangeroter Zeichnung,
in den Händen dreier Uniformierter:
sie gleiten mit ihnen durch neue Terrarien
im Haus des Meeres.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -
Blut kehrt in sich selbst zurück.

Ein Mann ist Iraker,
sein Bruder Albino -
orangerote Augen und eine Brille
mit Mikroskop auf dem linken Glas.
So kann er von hellgelben Monitoren lesen,
auch von fernen Tafeln.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -         
Blut kehrt in sich selbst zurück.

Die Fernsehsprecherin trägt heute
ein orangerote Kostüm,
spricht auch bei den Bildern
zu den Leichenfunden im Kosovo
mit sonor-bebendem Brustton,
erweckt Liebeswut, hellgelb.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -         
Blut kehrt in sich selbst zurück.

Männer messen sich mit Ihresgleichen,
kämpfen auch gegen Frauen
mit vorschnellem Verstand, Streitlust.
Gleich mehrere hellgelbe Anakondas
schlingen sich liebestoll um die orangeroten Hälse
der hyperventilierenden Uniformierten.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -         
Blut kehrt in sich selbst zurück.

Nicht weit weg die Frau des Irakers,
der eine viel Ältere heiraten wollte.
Jetzt zur Bat Mitzwa spricht sie
über Moab und Österreich,
Willkommen und Prügel für Fremde.
Die Tochter im hellgelben Kleid
entschlüpft dem Getätschel des Rabbiners
ins orangerote unterirdische Klo.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -         
Blut kehrt in sich selbst zurück.

In irgendeiner ganz fernen Wohnung
wächst ein kleines Mädchen heran.
Auf ihrem Geburtsfoto im Internet
sieht man schon die hellgelbe Anakonda.   
Es ist kein Geheimnis,
daß ihr Fremde täglich orangerote Briefe schreiben.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -         
Blut kehrt in sich selbst zurück.


VERDÜNNUNG

nun beginnt etwas hier,
auf dem Papier, und draußen,

unter den Autos, hinter den Scheiben,
in den Schemen der Menschen,

die plötzlich unsichtbar sind,
aber leben, auch weiter gehen,

in halber Höhe durchgeschnitten
vom Gestänge, das dieses Haus

zusammenhält. Leise Stimmen,
Straßenbahn voller Frauen.

Zippverschluß, Seitenbandschmerz.
Spring nicht auf, breit

dich nicht aus, bleib hier
im Papier, in deinem Schatten!

Lösch dich nicht aus, lös dich ab,
sei ganz dünn im Raum

„Chantal 2“ reflektiert auf eine Performance von Chantal Michel am 20.9.1999 während der von Hubert Winter organisierten First Austrotel Comtemporary Art Fair.


CHANTAL 2

erstarrt zur Puppe in einem Sarg-
zwischenraum, Fluchtreflex
aus der Ödnis des Doppelbetts -

so bewahrt sie ihr Selbst; bereitet
das Ausschlüpfen vor. Halbe                                     
Gliedmaßen als Atmungsorgane,

die sich irgendwann aufpumpen,
um sich endgültig von diesem Hotel zu befreien.
Leblos als Tarnung nach dem Anfall

vor dem Spiegel. Haut, Kleid als Kokon
um die Flachhöhle samt Organen. Als Vorrat
Blut und Luft. Nachtzustand,

vorweggenommen, Kopfauswüchse,
nachtrüßlige, achtsaftsüße.
Fruchtsaugerin, inmitten

von Zitrusbildern. Ihr Überlebensgeruch,
nur für sie, Aidsbotin                      
oder Botin einer Unschuldsliebe,

die Säulen erklimmt, Mauerlöcher durchstößt:
in ihren Armen anheimelnde
Rosensträuße im Passantendornwald.

Und: sie läßt Blatt- und Wurzelmyzel                       
unter der Erde in Häuser eindringen,
als Auftriebskunstwerk


Reto Ziegler lieferte dann eine bündige Zusammenfassung der Grundintentionen von „Fliege. Roman eines Augenblicks“, aus dem ich zwei Kapitel vortrug.

Aus meinem ersten Roman, „Die Berliner Entscheidung“, hatte ich mir am Tag davor vorlesen lassen. So konnte ich diesen Text wie einen von einem anderen Autor hören. Ich hatte ja auch keine so klare Erinnerung mehr an mich als denjenigen, der ihn schrieb, an keine der Schreibsituationen aus der Entfernung von fast 30 Jahren. Eines der wenigen Bilder, die sofort auftauchten: ich habe damals graues Umweltpapier benützt. Und es war üblich, Abschnitte oder Sätze, wenn man sie verschieben bzw. neu zusammenstellen wollte, auszuschneiden und eben auf ein neues Blatt zu kleben. Das Lektorat durch Jochen Jung hatte sich schnell erledigt: im Februar stand der Herbsttermin fest, obwohl da der Roman noch nicht fertig war; und schon im Juli war die Druckfassung da.

Ich empfand dann keine besondere Distanz und war damit zufrieden, dass mich das Buch an manche Ereignisse vom Anfang der 80er Jahre erinnerte. Am meisten verbanden mich die sehr genauen Beschreibungen von topographischen Details dem mit dem damaligen Ostberlin, das ich während mehrerer Aufenthalte erkundet hatte. Und auch die Tatsache, daß reale Personen durch die Figuren mehr oder minder deutlich hindurchschienen, gescheckt, als Verschmelzung von Zitaten aus DDR-Medien und Notaten authentischer Aussprüche und Eindrücke zugleich.

Das letzte Romankapitel bildete einen passenden Abschluß, weil sich die weibliche Hauptfigur bündig gegenüber ihrer Therapeutin skizziert und auch über die Darstellung ihrer Körperhaftigkeit auf das Jandl-Gedicht respondiert und auch auf meine konkrete Anwesenheit in dieser Lesesituation.


31

Du bist meine neue Therapeutin. Du sagst, ich soll alles vergessen, hast aber einen Lebenslauf verlangt. Du sagst, ich erscheine hier in diesem kahlen Zimmer, dessen Möbel nur zwei Sessel sind, auf denen wir einander gegenüber sitzen, nur als Körper, als Körper, der ankommt, schwitzt, weil er zu spät aus der Straßenbahn ausgestiegen ist, weil er sich in Sicherheit gewiegt hat, weil er dachte, er würde noch zurechtkommen. Mein Körper ist rechtzeitig in die Straßenbahn eingestiegen, hätte noch genug Zeit gehabt, um sich deiner Ordination gemächlich anzunähern. Aber auf einmal habe ich bemerken müssen, daß ich eine (die einzig richtige) Station übersehen habe, weshalb ich überraschenderweise schnell gehen mußte, nach dem richtigen Weg fragen, mir Sorgen machen, daß ich nicht zur ausgemachten Zeit bei dir eintreffe. Daher der Schweiß.

Du fragst, ob ich Schmerzen habe. ja, ich habe Schmerzen. Das Übliche, der Kopf. Der Kopf schmerzt, wie so oft, aus unerklärlichen Gründen. Auf einmal ist der Kopfschmerz da, dann ist er wieder weg. Achte ich auf den Schmerz, ist er nicht da. Oder er ist mit äußerster Heftigkeit da. Manchmal, wenn ich zur Arbeit gezwungen bin, wenn ich eine Verabredung einhalten muß, nehme ich ein Apa oder auch ein Gewadal, selten zwei. Ich spüle die Tablette in mich hinein und warte darauf, daß sich der Schmerz beruhigt.

Du sagst, ich soll meinen Körper beobachten, soll darauf hinarbeiten, mich zu entspannen. Wie kann ich mich auf diesem Sessel, diesem Folterstuhl, entspannen? Es ist ein furchtbarer Sessel, der wenig Halt gibt, hart und glatt ist. Ich hätte mir hier einen komfortableren Sessel gewünscht, einen, wo das Entspannen leichter gelingt.

Du sagst, ich soll die Schuhe ausziehen. Gut, ich ziehe die Schuhe aus. Der Druck auf den Fersen verschwindet nun langsam.

Ich soll mich bequem hinsetzen, verlangst du. Ich probiere herum, lasse meinen Körper probieren, der dann eine Lage findet, die ihn weniger spannt. Ich bin nicht entspannt, aber auch nicht mehr durch und durch verkrampft.

Ich schwitze. Ich bin aus Angst vorm Zuspätkommen in Schweiß geraten. Schweißdrüsen, Herz, Lunge, Magen – das alles ist meiner Kontrolle entzogen. Wenn ich aber so vor dir sitze, möchte ich alle Funktionen meines Körpers kontrollieren.

Du sagst, es gibt nur mich und meinen Körper und das, was mein Körper jetzt fühlt. Es gibt nur diesen Schmerz, der sich langsam löst.

Du sagst, ich soll mich beharrlich auf meinen Körper reduzieren. Auch der Körper hat seine Geschichte, ist deine Geschichte, sagst du. Er repräsentiert deine Geschichte, aber er hat keine Schuld. Es gehe darum, sagst du, während sich meine Spannung zu lösen beginnt, während meine Zehen sich, ohne zu knacksen, bewegen lassen, meine Fersen mir wohltun, meine Wadenmuskeln keine beißenden Striemen mehr sind, während mein Herz nicht mehr sticht und der Magen ohne Beschwerde zu arbeiten beginnt, während Zunge, Zähne und Zäpfchen einfach da sind, um bei geschlossenen Augen eine Antwort zu formulieren, es gehe darum, einmal völlig von der Schuld abzusehen, das Verdrängte dort zu lassen, wo es ist. Ja, sag ich (und meine, es ist die Wahrheit), in meinem Körper brodelt die Lösung aller vergangenen Schuld als augenblickliches Wohlbefinden.


Den Abschluß bildeten die von Gollner angekündigten „12 Minuten für dich“.

© E.A. Richter
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Gedichte auf dem
Zeitzug

 

Helmut Neundlinger, Herr und Fliege

E. A. Richters neuer Roman erzählt von Menschen und Insekten

 

Der Schriftsteller E. A. Richter findet eine Fliege auf seinem Computer und beginnt über Erinnerung und Männlichkeit zu meditieren. In seinem neuen Roman führt er vor, wie weit man sich von seinem Ausgangspunkt entfernen kann, ohne sich dabei gänzlich abhanden zu kommen.

 

Die Fliegeals solche steht nicht gerade im Zentrum der literarischen Aufmerksamkeit. Dichter scheinen dieser Insektenart zuweilen ähnlich reserviert gegenüberzustehen wie die durchschnittliche heimische Milchkuh. Ganz ohne Vorläufer ist „Fliege. Roman eines Augenblicks“ des 1941 im niederösterreichischen Tulbing geborenen Schriftstellers E. A. Richter jedoch auch nicht: Schwärme dieser Insektenart bevölkern etwa William Goldings Roman-Klassiker „Herr der Fliegen“ – vielen Leserinnen und Lesern wohl aus dem Englischunterrricht zu Schulzeiten vertraut. Der Wiener Dichter Ernst Jandl (1925-2000) wiederum hat einer unter die morgendliche menschliche Schlafwalze geratenen Stubenfliege einen berührenden Nachruf in „heruntergekommener Sprache“ gewidmet – E. A. Richter verwendet einen Teil dieses poetischen Juwels als Motto seines soeben in der „edition korrespondenzen“ erschienenen Buches.

 

Kein Hinweis findet sich indes auf das Langgedicht „Fliege“ des russischstämmigen Dichters Joseph Brodsky (1940-1986). Dabei war das Werk des von Richter so geschätzten Lyrikers für die Entstehung des Fliegen-Romans ungleich wichtiger als das poetische Fundstück aus dem Jandl-Gedicht. „Ich habe dieses Gedicht ursprünglich benützt, um den Text zu strukturieren, indem ich jede seiner insgesamt 252 Zeilen als Motto für die einzelnen Textabschnitte verwendet habe“, beschreibt Richter die literarische Inanspruchnahme des Vorbildes. „Am Anfang schien mir noch eine Art von Koinzidenz gegeben. Der Text hat sich aber aus verschiedenen Gründen stark von diesem Ausgangspunkt wegbewegt.“

 

Und so ist man als Leser überrascht und auch wieder nicht, dass Richters Roman sich puncto Fliege verhältnismäßig zurückhält. Zu Beginn begegnen wir zwar der Fliege als „Mutter des Romans“, wie es der Autor formuliert – als ebenso zufällige wie hintergründige Quelle der Inspiration. „Soeben flog mir eine winzige Fliege auf die Nase, setzte sich dann auf dem Rahmen des Monitors und lief ein Stück nach oben. Sie hob ab und landete, den Kopf schräg zur Tastatur hin gerichtet, auf dem unteren Rand. Je näher ich kam, desto unschärfer wurde sie.“ Bereits die ersten drei Sätze des Textes verweisen auf die Neigung des naseweisen Insekts zum Verschwinden – zumindest, was ihre Präsenz im Text betrifft. Gemeinsam mit Herrn Brodsky verliert sie sich in den Unschärfen der Richter’schen Imagination – was jedoch ihre ursprüngliche Bedeutung für das Entstehen des Romans eher vergrößert als verkleinert. Anders gesagt: Ohne Fliege kein Roman, auch wenn dieser alsbald ganz andere Wesen verfolgt als die facettenäugigen Insekten. Der Lyriker im Romancier E. A. Richter spricht diesbezüglich in einem starken Bild vom „aufgefächerten Uraugenblick“, der von der Fliegenlandung in Gang gesetzt wurde: „Die Fliegengeschichte hat letztlich etwas ganz anderes bewirkt.“

 
Von der Fliege zum Mann
 

Die alte Geschichte vom Verhältnis zwischen plötzlichem Einfall und allmählicher (Re-)Konstruktion erlebt in Richters Text eine Wiederauferstehung. Auf die Fliege folgt ein in kurzen, mal scharf gegeneinander abgegrenzten, dann wieder sanft ineinander überfließenden Kapiteln mäandernder Erinnerungsstrom, der den Ich-Erzähler der Geschichte, der – wenig überraschend – Adam Fliege heißt, die unterschiedlichsten Stränge seiner Existenz vor Augen führt. Man könnte – um das Motiv der Fliege noch ein wenig zu strapazieren – von einem Facettenblick auf jene Beziehungen und Erlebnisse sprechen, den der Schreibprozess entwickelt: Kein allgewaltiger Erzähler sitzt dem Leser im Nacken, um ihn durch die Fährnisse von Adam Flieges Leben und Wirken zu geleiten. Allmählich und bruchstückhaft lässt sich erahnen, was Richter als „Hauptmotiv“ seines Romans benennt: „Den vergangenen Dingen Bedeutung geben, sie nicht vorbeigehen lassen.“ Angesichts dessen, was der Autor bzw. sein Erzähl-Ich vor Augen führt, handelt es sich dabei in keinem Fall um Sentimentalitäten, sondern um durch und durch schmerzhafte Erinnerungen an ein Leben in emotionaler und finanzieller Abhängigkeit und an Beziehungen, die eher aus einem gewalttätigen Sich-Aneinander-Reiben bestehen und kaum einmal aus respektvoller Nähe in Augenhöhe. Wir beobachten Adam Fliege dabei, wie er sich in kleinsten Schritten aus Verhältnissen zu lösen versucht, aus denen ungeduldigere Gemüter wohl längst mit Sack und Pack geflohen wären.

 

Und obwohl Adams Begegnungen mit Frauen einen großen Teil des Romans einnehmen – Adams Cousine Julia, mit der er vor- bzw. frühpubertäre sexuelle Erfahrungen teilt, seine Frau Klara und seine späteren Geliebten Flora und Birgit –, „ist das Buch eine Männergeschichte“, wie E. A. Richter selbst bekennt. Nicht bloß der Name der Hauptfigur, der ohne Umschweife auf den Ersten aller Männer verweist, legt eine solche Deutung nahe. Adams Reibebaum auf dem Weg zu einer befreiten Männlichkeit ist vor allem der Schwiegervater, in dessen Haus er mit seiner Frau Klara in den Siebzigerjahren einzieht und der ihn auf allen Ebenen spüren lässt, wie wenig er ihm zutraut. Im Lesen überrascht weniger die Figur des übermächtigen Haustyrannen, der alle um sich beherrscht und dafür auch noch „Dankbarkeit“ erwartet, sondern vielmehr das zaghafte Aufbegehren von Adam und Karla gegen die demütigenden väterlichen Bevormundungen. In gewisser Weise ist das zögernde Sich-Abnabeln den Umständen geschuldet – der kaum gegebenen Aussicht, finanziell auf eigenen, unabhängigen Beinen zu stehen. Über die private Konstellation hinaus erscheint darin eine Art Grundkonflikt der Zweiten Republik: Viele der von Krieg und autoritärer Erziehung sozialisierten Väter boten ihren Söhnen und Töchtern zwar reichlich Angriffsfläche für Widerstand und Abwendung, jedoch kaum Spielraum für positive Identifikationen. Elterliche Liebe wurde nicht als Geborgenheit, sondern als zunächst unentrinnbarer, späterhin nur durch Flucht oder abgrenzende Aggression aufzulösender Gewaltzusammenhang erlebt.

 
Die wilden Siebziger
 

Im Hintergrund des Romans erscheinen die Siebzigerjahre als „archimedischer Punkt des 20. Jahrhunderts“, wie es der Schriftsteller Leo Federmair in einem Essay formuliert hat: Im Gefolge der 68er-Aufstände kommt die Gesellschaft in Bewegung, Freiräume entstehen, alternative Lebensentwürfe erkämpfen sich gesellschaftliche Sichtbarkeit. Das große Laboratorium erweist sich jedoch allzeit überwacht und bedroht vom langen Atem des Staates, konkret: seiner Machteliten. Adam bekommt für seine harmlosen Ausbruchsversuche vom Schwiegervater die Rechnung präsentiert: Nach der legendären Palmers-Entführung läuft bei der Staatspolizei eine anonyme Anzeige wegen angeblicher Mitwisserschaft gegen ihn ein. Adam ahnt nicht, sondern weiß, woher der Wind weht. E. A. Richter gibt in seinem Roman den subtilen Chronisten jener vermeintlich goldenen Jahre gesellschaftlichen Reichtums und wachsender Liberalität: Denn unter den Talaren und hinter den Gardinen tobten weiter Patriarchen, die ihren Nächsten die Luft zum Atmen nahmen.

Auch wenn Richter zurecht betont, dass man in Adam keinesfalls sein einfaches Alter Ego erblicken dürfe, treffen sich am Horizont der Zeitläufe die Lebenslinien des Autors und seines Helden. Wie Adam ist Richter laut Selbstbeschreibung „ein Landkind, aber auch ein Landflüchtling“. Das Aufwachsen am Bauernhof – gleichsam „unter Fliegen“ – spielt im Text ebenso eine gewisse Rolle wie das Milieu der politisierten Kunst der Siebzigerjahre, das sich unter anderem in der Besetzung jenes Inlandsschlachthofes manifestierte, aus dem später das Kulturzentrum „Arena“ hervorgehen sollte.

 

1959, mit 18 Jahren, zog es E. A. Richter fort aus der Armut und Enge des Bauernhofs im Tullnerfeld. „Ich inskribierte Germanistik und Geschichte als so genannter Werkstudent, denn ich musste mir mein Studium durch zusätzliche Arbeiten in Hotels, in einer Buchdruckerei oder einer Buchhandlung verdienen.“ Just im Revolutionsjahr 68 schließt er seine Studien ab und beginnt als Lehrer zu arbeiten – in Bruck an der Leitha zunächst, dann in Schwechat, wo er aufgrund des akuten Lehrermangels in bestimmten Fächern sogar Zeichnen unterrichtet. 1970 erhält er schließlich eine Stelle an einem Gymnasium in Floridsdorf. Ungefähr zur selben Zeit setzt auch sein Engagement bei der kurz zuvor gegründeten Zeitschrift „wespennest“ ein, das bald zum Zentralorgan der linken Poeten in Wien mutiert. Gustav Ernst, Peter Henisch und Kottan-Erfinder Helmut Zenker sind die Zampanos, und der von jeher schon am Bildnerischen interessierte Richter übernimmt die optische Gestaltung des Heftes. Er wird zum Bindeglied zwischen den Künsten – langfristig jedoch als Kämpfer allein auf weiter Flur. „Ich war letztlich enttäuscht, dass die Dichter kaum Beziehung zur bildenden Kunst entwickelten“, erklärt er seinen allmählichen Rückzug aus der ersten „wespennest“-Reihe im Lauf der Jahre.

 

1974 quittiert er schließlich seinen Job als Lehrer und lebt einige Jahre vom Schreiben. „Damals gab es ja noch das kleine Fernsehspiel im ORF, für das ich Drehbücher verfasste, und auch einige Hörspiele, die auf Ö1 liefen. Es war nicht berauschend, aber es ging.“ Richter veröffentlicht erste Lyrik-Bände, unter anderem „Friede den Männern“ (1982) im renommierten Residenz-Verlag. Schon hier taucht das Thema des Mannseins explizit auf – sozusagen ein geheimer roter Faden durchs Richter’sche Werk.

 

In den Achtzigerjahren wechselt er aus der ungesicherten Existenz der freien Autorschaft wieder zurück zum Unterrichten – diesmal jedoch in der Erwachsenenbildung, als Deutschlehrer im Vorstudienlehrgang an der Uni Wien. Ende der Achtzigerjahre scheint sein Schreibstrom zu versiegen – an der sichtbaren Oberfläche des Publizierens zumindest. Mit Macht zieht es ihn Richtung bildender Kunst – dokumentiert unter anderem in dem Installations-Großprojekt „Videologie“. Ende der Neunziger dann das stille Comeback als Dichter – mit dem Band „Das leere Kuvert“, erschienen in der Bibliothek der Provinz, eindringlich benachwortet von niemand Geringerem als dem 2008 verstorbenen Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler. Neben dem Romancier und dem bildenden Künstler gilt es also immer aufs Neue den Lyriker Richter zu entdecken, einen subtilen Chronisten, der seinen scharfen Blick nach wie vor auf das vermeintlich Unspektakuläre richtet.

 
 
Helmut Neundlinger, Wilde Wörter, kosmische Gelassenheit.

Zur Lyrik E. A. Richters

 

E. A. Richter – ein poetischer Planet, der schon vor mehr als dreißig Jahren in die Umlaufbahn der öffentlichen Aufmerksamkeit getreten ist. Und dennoch gilt es diesen sowohl hinsichtlich seiner Oberflächeneigenschaften als auch seiner Tiefendimensionen in seinen vollen Ausmaßen erst zu entdecken. Das mag an Richters zeitweiligem Wechsel in das Sonnensystem der Bildenden Kunst und der damit verbundenen publizistischen Zurückhaltung ebenso liegen wie an der kaum auf einen Nenner zu bringenden Vielfalt seiner Produktion. Manchmal werden wir Zeugen einer Szene, eines Geschehens, dann wieder befinden wir uns in einem mitreißenden Gedankenstrom. Richter wechselt in seiner Lyrik souverän zwischen Reduktion und Überfluss; die Wirklichkeit begegnet uns in ihrer oft so gnadenlosen Banalität genauso wie rätsel- und traumhafte Emanationen einer berauschten Imagination. Richter beherrscht die hohen, expressiven Töne ebenso wie den verhalten-stillen. Das Pathos hat in diesem Werk seinen festen Platz neben der verruchten Schwester Ironie.

 

Mag sein, dass man mit E. A. Richters Namen keine Gassenhauer verbindet wie mit jenen seiner berühmten Ressortkollegen Erich Fried oder Ernst Jandl. Dabei ließe sich das Werk des 1941 im niederösterreichischen Tulbing geborenen Schriftstellers in seinen vielschichtigen Qualitäten ziemlich genau in der Mitte zwischen den einander so freundlich gesinnten Antipoden Fried und Jandl ansiedeln. Auf seine Weise versucht Richter die gesellschaftskritische Wachheit des einen mit der sprachlichen Radikalität des anderen zu synthetisieren, um schließlich einen Tonfall zu kreieren, der sich von der scheinbar unwiderstehlichen Anziehungskraft der beiden Titanen emanzipiert hat.

 

„Friede den Männern“ heißt ein früher Gedichtband Richters aus dem Jahr 1982, der bislang letzte erschien 2007 unter dem Titel „Obachter“. Im zeitlichen Umfeld dieser beiden Publikationen sind auch jene Gedichte entstanden, die in diesem Podium-Auswahlband versammelt sind. Zwischen den Buchtiteln spannt sich der poetologisch-thematische Bogen seiner Arbeit auf: Männlichkeit ist und bleibt ein zentrales Thema seiner Lyrik – in all seinen Facetten: das Sohn- genauso wie das Vatersein, das Mannsein in Beziehung, der männliche Körper in seiner Sexualität und schließlich im Alterungsprozess. Demgegenüber finden wir das „Obachten“ als kontinuierliche Wachsamkeit, als Beschreiben, Registrieren und Reflektieren der Sinneseindrücke, der Außenwelt, aber auch des Innenlebens, der Gefühle und Empfindungen.

 

In diesem Punkt erschließt sich eine gewichtige Parallele zur Lyrik von Ernst Jandl: Im Gefolge seines poetischen Theaterstücks „Aus der Fremde“ (1978) schreibt Jandl „Protokollgedichte“ wie etwa „selbstportrait des schachspielers als trinkende uhr“, welche die vermeintliche Ereignislosigkeit des Alltags in poetische Notate verwandeln. Oberflächlich scheint darin kaum mehr etwas vom eruptiven, berserkernden Ton der kurz davor entstandenen „heruntergekommenen Sprache“ übrig geblieben zu sein. Dennoch hebt gerade die existenzielle Genauigkeit der Sprache diese Gedichte über den Status eines bloß beiläufig entstandenen poetischen Tage- oder Stundenbuchs hinaus. Das Schreiben verwandelt sich vom expressiven Schöpfungsakt bzw. vom Anspruch eines kompromisslosen Erforschens der Grenzen sprachlichen Ausdrucksvermögens allmählich in eine alltägliche Praxis der Selbstvergewisserung. Im Gestus der Übung wendet sich das lyrische Ich vom Spektakulären ab und den unscheinbareren, zunächst buchstäblich unpoetischen Dingen, Abläufen und Zuständen zu. Der aus Wien stammende englische Dichter Michael Hamburger hat dafür den paradoxen Begriff „Tagebuch der Nicht-Ereignisse“ geprägt.

 

Ähnliches gelingt E. A. Richter in einer Serie von Gedichten aus dem Jahr 1980: Wir folgen dem „Obachter“ in die obsessiv-distanzierte poetische Revue eines gerade eben vergangenen Jahrzehnts. Nicht irgendeines Jahrzehnts, sondern desjenigen, in dem sich die politischen und sozialen Hoffnungen der Nachkriegsgeneration allmählich in kollektive wie individuelle Aussichtslosigkeiten verwandelten. Von der „bleiernen Zeit“ spricht man in Italien, das sich gleichsam zum Brennglas der Vielfalt linker Lebens- und Arbeitsmodelle entwickelt. Die darin umschriebene Erstarrung betrifft sämtliche sozialen Verhältnisse. Auch Richters Obachter-Poesie lässt sich davon tangieren, sei es in der Auseinandersetzung um die spezifisch hiesigen Stillstände („Nonstop Konsens“) oder aber in der Thematisierung globaler Kämpfe (Viet Nam). Das Bestreben eines genauen poetisch-politischen Hinschauens und Reflektierens lässt Richter momentweise deutlich näher an Fried heranrücken – wären da nicht ebenso die poetischen Protokolle dessen, was Jandl in „Aus der Fremde“ einmal als „alltagsdreck“ bezeichnet, exemplarisch vorgeführt etwa in dem Gedicht „11. April, 10 Minuten“,  einem tragikomischen Blues des Erwachens im ganz normalen familiären Alltagswahnsinn.

 

Immer wieder meditiert Richter in seiner Lyrik über die sich beständig auftuenden Abgründe in der „Keimzelle der Gesellschaft“: das Verhältnis zwischen Mann und Frau, das  durch die sexuelle Revolution und die feministische Bewegung einen scheinbar kaum zu revidierenden Veränderungsimpuls erhalten hat. Es gibt hierzulande wohl kaum einen Dichter, der sich intensiver auf das Experiment des Infragestellens der eigenen Geschlechterrolle eingelassen hat als E. A. Richter – und mit dem Adjektiv „intensiv“ sei verdeutlicht, dass der Autor es eben nicht dabei bewenden lässt, Lippenbekenntnisse zum persönlichen Reformwillen abzugeben. Richter geht in seiner Lyrik tiefer, dorthin, wo der Schmerz sitzt, die Verstörung und oft auch der Beziehungsabbruch. Das alles ereignet sich in seinen Gedichten jedoch nicht an einer plakativ-lamentierenden Oberfläche, sondern zwischen den Zeilen, zwischen den Blicken, im Abstand zwischen ausgesprochenen und unausgesprochenen Worten. Im Gedicht „Er und ich“ etwa finden wir eine komplexe Bestandsaufnahme dessen, was nach all den Bemühungen um ein „anderes“ Leben, um eine neue Form der Geschlechterbeziehung geblieben ist: „er, der Partner, der sich partnerschaftlich anbiedert / an die unüberwindlichen Barrieren des Weiblichseins“ heißt es an einer Stelle, in der das fortgesetzte Unbehagen zwischen Mann und Frau einen ernüchterten Ausdruck findet.

 

In den Gedichten aus dem Jahr 1980 finden wir in gewisser Weise auch den lyrischen Rohstoff für Richters 2010 erschienenen Roman „Fliege“, in dem der Ich-Erzähler in einer Gedankenreise noch einmal zu den 1970ern zurückkehrt. Er berichtet, um Adorno zu variieren, von einem „beschädigten“ Leben, dem die identifikatorischen Angebote einer neuen, anderen Männlichkeit fehlen.

 

Kein Despot mehr und doch kein Mann – das ist, grob gesprochen, die Kluft, in der sich die männliche Nachkriegsgeneration buchstäblich allein gelassen wiederfindet. Was bleibt, sind oft nur Karikaturen von Souveränität („H. im Glück“), Zerrbilder eines mehr post- denn antiautoritären Charakters. Das Richtersche Aufbegehren gegen solche Hohlformen maskuliner (Selbst-)Herrlichkeit endet jedoch nicht in der Trostlosigkeit finaler Dekonstruktion. Gleichsam als Gegenentwurf betritt der bereits genannte „Obachter“ die Bühne – einer, der eben nicht unbeteiligt und schon gar nicht unbehelligt bleibt, sondern mit seiner Sensibilität die Kostbarkeiten des Koexistierens begreift. Vor allem in den um 2007 entstandenen Incipit-Gedichten treten wir einem reifen, reflektierten lyrischen Ich gegenüber, der sich ähnlich schonungslos über die körper- und geisteigenen Prozesse der Ermüdung und Erschöpfung Rechenschaft ablegt wie Ernst Jandl in seinen letzten Gedichtbänden. Die Gedichte „Kein Interesse“  und „Eingerext“ stehen emblematisch für diesen Gestus der poetischen Selbstbeobachtung, die nicht bei der reinen Beschreibung stehen bleibt, sondern Bilder einer zuweilen dramatischen Endgültigkeit erzeugt: „Eingerext. Hingestürzt im Krampf / der proximalen Extremitätenmuskulatur - / hingestürzt, zerschlagen am Boden“.

 

Gerade die für Richter so typische Spannung zwischen Sinnlichkeit und Reflexion, Nähe und Distanz, Sprache und Körper steuert in den jüngsten Gedichten auf einen Ton zu, der der unendlichen Akkumulation von Ein- und Ausdrücken mit einer gewissen kosmischen Gelassenheit begegnet. Und so heißt es schließlich geradezu allumfassend im Gedicht „Körpergeburt“: „Ich atmete mich wörtlich ein, / als Toter, der wiederum Tote gebiert, // und beim nächsten Atemzug / kehrte ich in mich zurück, scheinbar unverändert.“

 
 

Helmut Gollner

Die Rückkehr des Autors E.A. Richter mit dem Lyrikband „Das leere Kuvert“

 

Das Gedicht „Blutkreislauf“ hat einen (etwas hölzernen) Refrain:

 

            Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten –

            Eklatantes baut sich rundherum auf –

            Blut kehrt in sich selbst zurück

 

So, könnte man sagen, produziert das Bewusstsein seine Welt und der Dichter sein Gedicht: Es ist das eigene Blut, das durch die Wirklichkeit treibt und diese zu mächtigen Bedeutungen aufpumpt. Lyrik ist durchpulste Welt; die Eklatanz ihrer Erscheinungen eine Folge des Blutdrucks. Aber „Blut kehrt in sich selbst zurück“: in seinem Zyklus schwillt die Welt auch wieder ab zu ihrem ich-armen Bestand.

 

Ich finde das tröstlich: die Bedeutsamkeit der Welt als Sache der eigenen Wallung zu erkennen und mit deren Rückgang den Dingen (und sich selbst) wieder Frieden zu ermöglichen.

 

Etwas von diesem Zyklus sehe ich in der Anlage und der Abfolge der Gedichte. Der Band beginnt mit ein paar Halbschlafgedichten: Gerade bei herabgesetzter Kontrolle entwickelt sich eine besonders präzise Wahrnehmung, die die Wirklichkeit von ihrer Konventionalität befreit und dem Ich ausliefert. „Schau aus dem Fenster: etwas spiegelt,/ schwillt auf, überwölbt mich –„; „alles Herzfläche, Hirneinklang“. Die Welt wölbt sich dem Bewusstsein entgegen. Die begehrliche Wahrnehmungsschärfe des Blicks behalten die Gedichte dann auch, wenn sie nicht frühmorgens geschrieben sind. (Und später, an einem „Pariser Morgen“, betreibt der Autor das Aneignungsgeschäft des Dichters noch unverblümter: „schon in der Dämmerung vom Bett aus/ holte ich mir abermals Vögel heran,/ aus dem Astwerk der Platanen, fror sie ein“; dann holt er sich noch den Mond, lässt ihn schrumpfen und wieder wegtaumeln.) Ein unumschränktes Ich, sein Körper sogar, treibt aus „in alle Himmelsrichtungen“.

 

Eine Qualität von Richters Lyrik besteht aber doch darin, dass das Wahrgenommene üblicherweise nicht einfach im Ich verschwindet, sondern im Aufgerufenwerden, im hochkonzentrierten Akt der Bezeichnung, Substanz und Kontur behält. Ein großer Teil der Gedichte entwickelt eine Art Intensivimpressionismus, prosanahe, bisweilen stürzende Wahrnehmungsfolgen, deren Dinge schon in der bloßen Nennung in Spannung sind vor Anwesenheit oder Erwartung des Ichs. Die in die Sprache gepumpte Energie staut die Dinge zu lyrischer Dichte bzw. ihre Eigenschaften zu einer Art Ich-Konsistenz. Und meistens münden die Dinge dann auch thematisch, nach traditionellem lyrischen Muster, ins Ich, von dem sie ihr Blut haben. Wahrnehmung als Anlauf zum Ich.

 

Nichts hüpft oder tanzt in Richters Gedichten; ein Wortstrom, portioniert in Zeilen und einheitliche Strophen, in unprätentiösem Rhythmus, lyrisch völlig einleuchtend, zieht seine thematische Bahn. Prosa tut der Lyrik sowieso oft gut.

 

Natürlich ist das Hauptthema der Gedichte das Autoren-Ich. Aber über die Kapitel des Buches hinweg verzweigt es sich zunehmend in erlebte Welt: auf Reisen, in die Kindheit, das Elternhaus, in die Sache mit den Frauen und der Liebe.

 

Frauen: Zwei großartige Gedichte gelten einem synthetischen Rätselwesen Chantal, nicht aus Natur, sondern aus Männersehnsüchten zusammengesetzt, in Körperteile dissoziiert, „Rumpfpopanz“, „Fruchtsaugerin“, „Aidsbotin“, wie einem Pornoladen entstiegen, zugleich Projektionsfläche für das Keusche in den Männerwünschen; „und: sie lässt Wurzelmyzel/ unter der Erde in Häuser eindringen,/ als Auftriebskunstwerk“. Das ist nicht neu bei den Männern: die Kunst der Frau ist Natur. (Andererseits wäre das für viele Künstler das höchste Kompliment.) – Erotische Phantasien sind auch die Affengedichte: haariger Orang Utan der Mann in den Träumen zartester Mädchen, oder die „Weiß-nicht-Affen“ wie Menschenmänner täppisch, wenn eine nackte Frau erscheint.

 

Das sind trotz ihrer Intensität relativ ungestresste, trotz ihres Identitätsgehalts relativ ich-entlastete Gedichte. Schwerer werden Liebe und Poesie – bis zum gründlichen Zweifel an der Sprache selbst – im Trennungsschmerz. „Vom Verschwinden der Zeit“ thematisiert Trennung, Wiederkehr des Ichs nach seiner Verausgabung an die Frau, Zorn, Bewältigungsversuche. Trennung jedenfalls schafft eine prekäre Verfassung, deren Verbalisierungen man am wenigsten vertrauen kann, dienen sie doch (auch oder vor allem im Gedicht!) eher dem Selbstschutz als der Wahrheit (durch Selbsttäuschung, Verdrängung, Rationalisierung, Ästhetisierung...). Und so steht am Schluss des Gedichts das poetische Verfahren selbst in Frage: „(...) Es war alles,/ es war nichts. Red ich herum? Stell ich mich dumm?/ Bleib ich nun stumm? Reim ich mich endlich selbst?“ Ist Sprache nur Schutz vor ihrem Inhalt? Wird auf ästhetischen Wege harmonisiert, was in der Wirklichkeit weiter streitet? Und wird das Problem bis auf seine Unlösbarkeit zugespitzt, wenn im (singulären) Reim am Schluss selbst der Ästhetikverdacht ästhetisiert wird?

 

Noch eine zweite poetologische Tendenz lässt sich der Gedichtfolge ablesen: das angeschwollene Ich zu verdünnen. Das ist ein Friedenswunsch. Nur die Begehrlichkeit hat Krieg gemacht mit den Dingen, Versöhnung ist die Anerkennung ihrer bloßen Präsenz. Unsere Fragen sind dann prinzipiell die falsche Umgangsform mit den Dingen. (In einigen Gedichten gelingt dem Autor der Frieden mit ihnen, ausdrücklich.)

 

Der Autor beobachtet ein Elsternpärchen, Elsternliebe, Elsternart, „Elsternleid zu minimieren“; ein wenig neidisch und gerührt. Als einer der Vögel nahekommt, vergisst sich der Autor und greift nach ihm: „schon entfloh sie/ dem greifbaren Begehren,/ und ich schalt mich, kettete mich zur Strafe// in meinem Brustkorb fest, musste Schönheit, Scheu,/ viele Wörter mit „sch“ am Anfang,/ miteinander reimen, bis nur noch Speichel rann“.

 

Der poetische Missgriff: Natur usurpieren zu wollen. Zur Strafe (und wohl aus unerfüllter Sehnsucht) wirft sich der Autor an die eigene Brust und lässt sein Ich poetisch speicheln, die Natur nach Poetenart reimen, bis der Speichel auch ohne Natur rinnt. Das Gedicht enthält ein ernstes/leichtes poetisches Programm: Nicht nach Elstern greifen! (Nicht die Dinge poetisch immer fürs Ich funktionalisieren!) Weiter vorne im Buch hatte sich der Autor noch straflos Vögel aus den Platanen herangeholt.

 

Nicht zufällig wohl steht das Gedicht „Verdünnung“ am Schluss des Bandes: Der Dichter, die Feder in der Hand, beobachtet und notiert vorbeiziehenden Alltag; er beendet die Notizen mit der Selbstermahnung: „Spring nicht auf, breit// dich nicht aus, bleib hier/ im Papier, in deinem Schatten!/ Lösch dich nicht aus, lös dich ab,/ sei ganz dünn im Raum“. Hände weg von den Elstern! Die Anwesenheit des Dichters im Raum der Dinge hat ganz „dünn“ zu sein, papierdünn. Die poetische Betätigung der Blutpumpe nützt nicht immer den Dingen, dem Dichter und dem Gedicht.

 

E. A. Richter, Jahrgang 1941, in den Siebzigern Mitbegründer und Mitherausgeber des „Wespennest“, in den Achtzigern erfolgreicher Lyrik- („Friede den Männern“, 82) und Romanautor („Die Berliner Entscheidung“, 84), danach in die Bildende Kunst abgewandert, meldet sich mit „Das leere Kuvert“ in der Literatur zurück. Willkommen! Wendelin Schmidt-Dengler hat ein einfühlsames und informatives Nachwort geschrieben.

 

(E.A. Richter: Das leere Kuvert. Gedichte. Bibliothek der Provinz, Weitra 2002. 128 Seiten.)

 
 
Helmut Gollner
Statement zu E. A. Richters Lyrik am 28.4.2011
 

Mir gefällt an deinen Gedichten erstens, was ich für mich ihren „Intensivimpressionismus“ oder „Expressivimpressionismus“ nenne; vielleicht lässt sich, was ich damit meine, am besten am Gedicht Obachter erklären, das immerhin einem ganzen Gedichtband den Titel gegeben hat.

 

Das lyrische Ich, der Obachter, holt „verschüttete Momente“ an die Oberfläche, Bilder aus der Vergangenheit, in prosanahen, bisweilen stürzenden Wahrnehmungsfolgen. Was ist ein „Obachter“? Ein Beobachter ohne die Vorsilbe be-. Die Streichung des Be- rückt das Achten, Acht haben, Achtung haben in den Vordergrund. Obachten ist einlässlicher als Beobachten. Und das Hauptwort „Obacht“ ist ein Synonym für besondere Aufmerksamkeit, mit einer kleinen Beimengung vielleicht von Warnung („Obacht geben“). Obachten ist eine Intensivform von Beobachten.

 

Der Obachter des Gedichts also hat eine entsprechende Intensivrevue seiner Vergangenheit abgelaufen. Am Schluss steht er da, im Heute, allein, letzter Überlebender seiner Erinnerungen; die Schlusszeile:

 

            Haut ausgeschaltet, Haus, Behausung, nur Augen, die summen.

 

Augen summen nicht. Hier aber doch. Was in der Wahrnehmung summt, wohl auch braust, ist das Ich. Welt kommt vor die Augen, zieht durch den Kopf und kommt im Ich nieder als Befindlichkeit: der bekannte poetische Vorgang, die Intensivform der Impression. Man kann das Summen des Ichs in der Dingwelt, das Brausen des Ichs, auch mit dem Refrain eines anderen Gedichts beschreiben, Blutkreislauf:

 

            Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten –

            Eklatantes baut sich rundherum auf –
            Blut kehrt in sich selbst zurück.
 

So, könnte man sagen, produziert das Bewusstsein die Welt und der Dichter sein Gedicht: Es ist das eigene Blut, das durch die Wirklichkeit treibt und diese zu mächtigen Bedeutungen („Eklatantes“) aufpumpt. Lyrik ist durchpulste Welt; ihre Bedeutsamkeiten und Schönheiten sind Sache des eigenen Blutdrucks. Aber: „Blut kehrt in sich selbst zurück.“ In seinem Rhythmus schwillt die Welt auch wieder ab zu ihren ich-armen Bestand. – Ich finde das tröstlich: die Bedeutsamkeit der Welt als Sache der eigenen Wallung zu erkennen und mit deren Rückgang den Dingen – sich selbst auch – wieder Frieden zu ermöglichen.

 

Es gibt, wie auch Prof. Schmidt-Dengler festgestellt hat, in deinen Gedichten eine gewisse Tendenz, die Dinge in Ruhe zu lassen, sie nicht immer fürs Ich zu usurpieren oder zu funktionalisieren, sie nicht immer zum Ich zu machen; eine Art Gegenbewegung zum Intensivierungsreden. Das ist die zweite Eigenschaft, die mir an deinen Gedichten gefällt, mindestens so sehr wie die beschriebene erste.

 

Im Band Das leere Kuvert steht ein schönes Elsterngedicht: Das lyrische Ich beobachtet ein Elsternpaar, liebevoll, und dankbar für dessen Nicht-Mensch-Sein. Der Obachter verhält sich mucksmäuschenstill, um das Beobachtete nicht zu beeinflussen. Nur einmal vergisst er sich und streckt die Hand nach einer nahe gekommenen Elster aus:

 
            schon entfloh sie
            dem greifbaren Begehren,

            und ich schalt mich, kettete mich zur Strafe

            in meinem Brustkorb fest, mußte Schönheit, Scheu,

            viele Wörter mit „sch“ am Anfang,

            miteinander reimen, bis nur noch Speichel rann

 

Das kann man vielleicht auch poetologisch interpretieren: Der Dichter soll nicht nach Elstern greifen. Elstern entziehen sich den Fangarmen des poetischen Ichs, dem Einverleibtwerden, sie wollen/sollen Elstern bleiben. Man kann die literarische Tätigkeit, Welt zu erobern (über Erkenntnis und Darstellung, über Sinn und Schönheit) einmal sein lassen; die Dinge die Dinge sein lassen (üblicherweise lässt der Dichter die Dinge besonders nicht in Ruhe). Nur das Wünschen, die Appetenz hat Krieg gemacht mit den Dingen. Versöhnung ist, die Dinge loszulassen, das gierige Ich einmal zurückzuhalten.

 

In dem Gedicht Place du Sorbonne sitzt das Ich als Obachter des Geschehens, ohne die Hand nach dem Geschehenden auszustrecken. Die letzte Strophe:

 
            inmitten eines Ansturms
            von Stoffen und Häuten: auf einmal
            völlig wunschlos, federleicht,
            versöhnt mit der Dingwelt
 

Eine Zeile im Gedicht Verszeit lautet:

 

            ich selbst wollte nichts darstellen, nur sitzen,

            sehr leiblich (…)
 

Die Dinge loszulassen bedeutet auch ein anderes Reden. Es könnte „so neben mir her“, „selbstverantwortungslos“ sein, wie es im Gedicht Herzgedröhn heißt; statt dem Absichtsreden ein tatsächlich losgelassenes, also ichnahes, konventionsfernes Reden, das gerne auch einmal der Sprache selbst die Führung überlässt – ich erinnere an die Schlusszeile des Gedichts Obachter („Haut ausgeschaltet, Haus, Behausung, nur Augen, die summen“: 5 mal „au“, weil die Spreche gerne perseveriert) – ein Dahinreden meinetwegen. Man kann ja auch finden, ohne zu suchen; und die ungesuchten Funde haben vielleicht den Vorteil, die überraschenderen und treffenderen zu sein.

 

Das letzte Gedicht des Bandes Das leere Kuvert heißt Verdünnung. Seine exponierte Stellung im Buch ist wahrscheinlich kein Zufall. Auch hier der Obachter beim Obachten. Aber zum Schluss fordert er sich auf:

 
            Spring nicht auf, breit
            dich nicht aus, bleib hier
            im Papier, in deinem Schatten!
            Lösch dich nicht aus, lös dich ab,
            sei ganz dünn im Raum
 

Ichverdünnung, -zurückhaltung, Dingverdünnung.

Ein Drittes möchte ich noch kurz erwähnen: Ich genieße den Prosasound in vielen deiner Gedichte. Ich meine sowieso: Prosa tut der Lyrik oft gut. Prosa sorgt für eine gewisse Bodenhaftung, inhaltlich und ästhetisch, für eine gewisse Immunität gegen das Prätentiöse und Preziöse; bei dir für eine präzise, konzentrierte, manchmal ruhige Sprache. Entscheidend dabei ist, dass alles, was sich bei dir wie Prosa anfühlt, Lyrik ist, nichts als Lyrik: also auf kleinem, ungeteiltem Raum die Dinge unter die Lupe nimmt, besser: unter das Brennglas, und damit das ganze Ich referiert. Mir gefällt dein Prosasound, weil er nichts als Lyrik ist.    

 

 

 

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